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wo der Wind herkomme und wo die Flamme hinkomme, war dem Vater seine eigene
Beschraenkung erst recht lebendig; er wuenschte zu erfahren, wie weit sich der Mensch
mit seinen Gedanken wagen und wovon er hoffen duerfe sich und andern jemals
Rechenschaft zu geben. Die Heftigkeit des Kindes, wenn es irgendeinem lebendigen
Wesen Unrecht geschehen sah, erfreute den Vater hoechlich als das Zeichen eines
trefflichen Gemuets. Das Kind schlug heftig nach dem Kuechenmaedchen, das einige
Tauben abgeschnitten hatte. Dieser schoene Begriff wurde denn freilich bald wieder
zerstoert, als er den Knaben fand, der ohne Barmherzigkeit Froesche totschlug und
Schmetterlinge zerrupfte. Es erinnerte ihn dieser Zug an so viele Menschen, die
hoechst gerecht erscheinen, wenn sie ohne Leidenschaft sind und die Handlungen
anderer beobachten.
Dieses angenehme Gefuehl, dass der Knabe so einen schoenen und wahren Einfluss
auf sein Dasein habe, ward einen Augenblick gestoert, als Wilhelm in kurzem bemerkte,
dass wirklich der Knabe mehr ihn als er den Knaben erziehe. Er hatte an dem Kinde
nichts auszusetzen, er war nicht imstande, ihm eine Richtung zu geben, die es nicht
selbst nahm, und sogar die Unarten, gegen die Aurelie so viel gearbeitet hatte, waren,
so schien es, nach dem Tode dieser Freundin alle wieder in ihre alten Rechte getreten.
Noch machte das Kind die Tuere niemals hinter sich zu, noch wollte er seinen Teller
nicht abessen, und sein Behagen war niemals groesser, als wenn man ihm nachsah,
dass er den Bissen unmittelbar aus der Schuessel nehmen, das volle Glas
stehenlassen und aus der Flasche trinken konnte. So war er auch ganz allerliebst, wenn
er sich mit einem Buche in die Ecke setzte und sehr ernsthaft sagte: "Ich muss das
gelehrte Zeug studieren!", ob er gleich die Buchstaben noch lange weder unterscheiden
konnte noch wollte.
Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er bisher fuer das Kind getan hatte, wie wenig er zu
tun faehig sei, so entstand eine Unruhe in ihm, die sein ganzes Glueck aufzuwiegen
imstande war. "Sind wir Maenner denn", sagte er zu sich, "so selbstisch geboren, dass
wir unmoeglich fuer ein Wesen ausser uns Sorge tragen koennen? Bin ich mit dem
Knaben nicht eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignon war? Ich zog das liebe Kind
an, seine Gegenwart ergoetzte mich, und dabei hab ich es aufs grausamste
vernachlaessigt. Was tat ich zu seiner Bildung, nach der es so sehr strebte? Nichts! Ich
ueberliess es sich selbst und allen Zufaelligkeiten, denen es in einer ungebildeten
Gesellschaft nur ausgesetzt sein konnte; und dann fuer diesen Knaben, der dir so
merkwuerdig war, ehe er dir so wert sein konnte, hat dich denn dein Herz geheissen,
auch nur jemals das geringste fuer ihn zu tun? Es ist nicht mehr Zeit, dass du deine
eigenen Jahre und die Jahre anderer vergeudest; nimm dich zusammen, und denke,
was du fuer dich und die guten Geschoepfe zu tun hast, welche Natur und Neigung so
fest an dich knuepfte."
Eigentlich war dieses Selbstgespraech nur eine Einleitung, sich zu bekennen, dass er
schon gedacht, gesorgt, gesucht und gewaehlt hatte; er konnte nicht laenger zoegern,
sich es selbst zu gestehen. Nach oft vergebens wiederholtem Schmerz ueber den
Verlust Marianens fuehlte er nur zu deutlich, dass er eine Mutter fuer den Knaben
suchen muesse und dass er sie nicht sichrer als in Theresen finden werde. Er kannte
dieses vortreffliche Frauenzimmer ganz. Eine solche Gattin und Gehuelfin schien die
einzige zu sein, der man sich und die Seinen anvertrauen koennte. Ihre edle Neigung
zu Lothario machte ihm keine Bedenklichkeit. Sie waren durch ein sonderbares
Schicksal auf ewig getrennt, Therese hielt sich fuer frei und hatte von einer Heirat zwar
mit Gleichgueltigkeit, doch als von einer Sache gesprochen, die sich von selbst
versteht.
Nachdem er lange mit sich zu Rate gegangen war, nahm er sich vor, ihr von sich zu
sagen, soviel er nur wusste. Sie sollte ihn kennenlernen, wie er sie kannte, und er fing
nun an, seine eigene Geschichte durchzudenken; sie schien ihm an Begebenheiten so
leer und im ganzen jedes Bekenntnis so wenig zu seinem Vorteil, dass er mehr als
einmal von dem Vorsatz abzustehn im Begriff war. Endlich entschloss er sich, die Rolle
seiner Lehrjahre aus dem Turme von Jarno zu verlangen; dieser sagte: "Es ist eben zur
rechten Zeit", und Wilhelm erhielt sie.
Es ist eine schauderhafte Empfindung, wenn ein edler Mensch mit Bewusstsein auf
dem Punkte steht, wo er ueber sich selbst aufgeklaert werden soll. Alle uebergaenge
sind Krisen, und ist eine Krise nicht Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer
Krankheit vor den Spiegel! Die Besserung fuehlt man, und man sieht nur die Wirkung
des vergangenen uebels. Wilhelm war indessen vorbereitet genug, die Umstaende
hatten schon lebhaft zu ihm gesprochen, seine Freunde hatten ihn eben nicht geschont,
und wenn er gleich das Pergament mit einiger Hast aufrollte, so ward er doch immer
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